Berlin, 07. Dezember 2022. Gezielte russische Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur und der Wintereinbruch zwingen tausende Menschen zur Flucht. Sehr viele werden erneut in Deutschland Schutz suchen. Doch die Unterbringungskapazitäten in den Kommunen sind bereits jetzt am Limit. Ohne die Einbindung der privaten Haushalte wird die Aufnahme nicht zu bewältigen sein – das zeigt eine aktuelle Studie der Alliance4Ukraine, die von der gemeinnützigen Organisation ProjectTogether gegründet wurde. Zur Vermeidung von Chaos und überfüllter Notunterkünfte fordert die Alliance4Ukraine zusammen mit dem Migrationsforscher Gerald Knaus: 500 Euro Dankespauschale und praktische Unterstützung für jeden Haushalt, der geflüchtete Menschen aus der Ukraine aufnimmt.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs haben über 7,8 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Heimat verlassen, um in europäischen Ländern Schutz zu suchen. Davon sind mehr als eine Million Menschen nach Deutschland gekommen und wurden hier von der Zivilgesellschaft aufgenommen. Speziell bei der Unterbringung von Geflüchteten haben Zehntausende Privatpersonen ihre eigenen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt und Menschen aus der Ukraine zuhause aufgenommen.
So hat es Julia Kasper aus Koblenz gemacht. Die Sechsunddreißigjährige nahm fünf Monate lang eine Ukrainerin privat bei sich auf und unterstütze andere Geflüchtete ehrenamtlich. „Mir war es sehr wichtig, den ankommenden Menschen direkt zu helfen, weshalb ich sie in meiner Wohnung aufgenommen habe. Sie wären ansonsten in einer Massenunterkunft untergekommen“, so Kasper. Zusätzlich zur Bereitstellung ihrer eigenen Räumlichkeiten hat sie einer Mutter mit ihrem blinden Sohn sowie einem Baby bei Wohnungssuche, Behördengängen, Arztbesuchen und Sprachkursen geholfen, weil die Barrieren für Geflüchtete zu hoch und staatliche Begleitmaßnahmen nicht gegeben waren. „Julia war unser großer Schutzengel als wir aus Odessa nach Deutschland kamen! Ohne sie hätten wir heute keinen Schulplatz, keine Wohnung, keine Möbel, nicht die Arztbesuche und Anträge. Sie leistet mit anderen Ehrenamtlichen enorm viel. Der gesamte Ankommensprozess ist mit Amtsgängen sehr aufwändig und ohne Ansprechpartner hätte ich es nicht allein schaffen können!“, erklärt die Mutter Olena Kravcenko.
Für eine solche Unterstützung brauchte sowohl Geld als auch viel Zeit, berichtet Kasper. „Ich habe die Geflüchteten sehr gerne aufgenommen und es war eine echte Bereicherung für mich. Die Energie, die jedoch für Amtsgänge und Bürokratie aufgewendet werden muss, ist einfach zu hoch. So habe ich beispielsweise für meine Unterkunft trotz mehrfacher Anfragen nie eine finanzielle Kompensation erhalten. Für die Zukunft hoffe ich daher auf operative und finanzielle Unterstützung vom Staat, damit mein soziales Engagement nicht zur persönlichen Last wird und ich nicht mit Herausforderungen allein gelassen werde, nicht zuletzt mit Blick auf die gestiegenen Kosten.“
Diese Einschätzung teilt auch der Großteil der deutschen Gesellschaft, wie aus einer aktuellen Studie der Alliance4Ukraine, Deutschlands größtes Bündnis zur Unterstützung Geflüchteter, hervorgeht. Knapp 53 % der Bevölkerung sind der Meinung, dass der deutsche Staat mehr organisatorische Unterstützung für die private Aufnahme von geflüchteten Personen aus der Ukraine anbieten sollte.
Es ist damit zu rechnen, dass der Bedarf nach weiteren Unterbringungskapazitäten in diesem Winter wieder stark ansteigen wird. Russlands taktische Angriffe auf die Energie-Infrastruktur in der Ukraine machen das Leben in der Ukraine zunehmend unmöglich, sodass eine erneut große Fluchtbewegung erwartbar ist.
Putin will die Migration hunderttausender Zivilisten als Waffe gegen die europäischen Demokratien nutzen, um diese von innen heraus zu destabilisieren und zu schwächen. Genau das dürfen wir keinesfalls zulassen, weshalb Staat und Zivilgesellschaft nun einen gemeinsamen Schulterschluss dagegen bilden müssen.
Gerald Knaus Migrationsforscher
Europäischen Stabilitätsinitiative
Die Situation in den Kommunen ist bereits jetzt deutschlandweit angespannt. Immer häufiger werden Sporthallen zu Massenunterkünften umfunktioniert und Wohncontainer installiert. In Hamburg und Berlin liegen die Belegungskapazitäten inzwischen bei 99 %. „Wir sind an der Kapazitätsgrenze angelangt. [...] Wir müssen uns langsam der Frage stellen, was ist, wenn wir keinen Wohnraum mehr haben“, sagt der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Ralph Spiegler in einem Interview mit der ARD.
Was kann die Antwort der Deutschen auf Putins Versuch sein, uns durch große Fluchtbewegungen zu spalten? Wie kann es Gesellschaft und Staat gelingen, erneut Hunderttausende Menschen aufzunehmen und ihnen Schutz vor Krieg zu bieten?
Die Studie der Alliance4Ukraine legt dar, dass die zivilgesellschaftliche Bereitschaft zu helfen weiterhin groß ist – jedoch nicht ohne eine aktive Unterstützung und Befähigung durch den Staat. 23,4 % der Bürgerinnen und Bürger können sich aktuell vorstellen, Menschen aus der Ukraine bei sich privat aufzunehmen. Von dieser Gruppe machen sich jedoch 62 % Sorgen, dass die Aufnahme unter den aktuellen Umständen zu einer organisatorischen Belastung werden würde.
Knapp 60 % der aufnahmebereiten Bürgerinnen und Bürger wünschen sich finanzielle und operative Unterstützung. Freddi Lange, Leiter der Alliance4Ukraine und Herausgeber der Studie erklärt: „Die Zahlen zeigen eindeutig: Die Bürgerinnen und Bürger wollen helfen und sich aktiv einbringen. Jetzt ist es die Aufgabe des Staates, genau das zu ermöglichen. Was es jetzt braucht, ist eine Dankespauschale in Höhe von 500 Euro für jeden Haushalt, der ukrainische Geflüchtete aufnimmt und operative Unterstützung bei der Begleitung vor Ort. Ohne die Einbindung der Zivilgesellschaft werden wir die erneute Kraftanstrengung nicht meistern.“
Vergleichbare Ansätze werden bereits in Polen und Großbritannien erfolgreich umgesetzt, um kurzfristig Kapazitäten für dynamische Fluchtbewegungen zu schaffen. Die Flexibilität des Vorschlags senkt dabei deutlich die staatlichen Kosten für die Unterbringung, die derzeit in Deutschland zwischen 1.200 Euro und 2.000 Euro pro geflüchteter Person pro Monat liegen.
Auch von den Kommunen, die für die Unterbringung der Geflüchteten verantwortlich sind, erhält der Ansatz der privaten Unterbringung Zuspruch. Marian Schreier, Bürgermeister der Stadt Tengen in Baden-Württemberg, äußert hierzu: „Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder funktionieren wir flächendeckend Sport- und Gemeindehallen zu Notunterkünften um – in vielen Landkreisen ist das schon Realität. Oder wir gewinnen mehr privaten Wohnraum für die Unterbringung. Dabei dürfen wir jedoch unter keinen Umständen die Herausforderungen auf die engagierten Bürger abwälzen, sondern müssen sie währenddessen aktiv unterstützen, zum Beispiel durch Sozialarbeit und ein Integrationsmanagement.“
Um die staatliche Unterstützung für private Unterbringungen von geflüchteten Menschen noch diesen Winter einzuleiten, muss es nach Meinung von Lange und Knaus schnell gehen: Bundesinnenministerin Faeser sollte die notwendigen Hebel dafür jetzt in Bewegung setzen. Die Zivilgesellschaft wäre bereit.