Mehrweg: Erste Wahl – Wie ein Nudging-Experiment den Wandel im To-Go-Bereich beschleunigt
Kleine Anstöße können große Wirkung entfalten: Acht Gastronomieketten, 2,2 Millionen Datenpunkte und ein klarer Nachweis, dass sich Konsumverhalten messbar verändern lässt.
Noch immer entstehen in Deutschland Milliarden Einwegverpackungen, obwohl Mehrweg längst möglich ist. Ob im Coffee-to-go-Becher, beim Takeaway-Burger oder in der Kantine – Bequemlichkeit und Gewohnheit dominieren. Dabei zeigen Umfragen: Die Mehrheit der Menschen will nachhaltiger handeln. Das Mehrweg-Nudging-Experiment hat genau das untersucht und bewiesen, dass kleine, klug platzierte Anreize Verhalten verändern können. Was als wissenschaftliches Verhaltensexperiment begann, ist heute ein Modell für den Kulturwandel im Alltag: von der Ausnahme zur neuen Normalität.
Zwischen Haltung und Handeln
Mit der Mehrwegangebotspflicht existiert seit 2023 eine gesetzliche Grundlage, doch die Nutzung blieb enttäuschend gering. Die sogenannte »Intention-Behavior-Gap« beschreibt, warum Menschen zwar Nachhaltigkeit befürworten, aber anders handeln – aus Gewohnheit, Zeitmangel oder schlicht Bequemlichkeit. Für die Gastronomie bedeutet das: gute Absichten reichen nicht, es braucht Strukturen, die nachhaltiges Verhalten erleichtern.
»Allein 2022 wurden in der Gastronomie über 13 Milliarden Einwegbehälter genutzt, die über 250.000 Tonnen Müll verursachten. Das zeigt, wie schwer sich alte Konsummuster durchbrechen lassen.«
Caroline Kraas, WWF Deutschland
Viele Betriebe sehen Mehrweg als zusätzliche Belastung: zu teuer, zu aufwendig, zu unübersichtlich. Das Experiment setzte genau dort an und möchte zeigen, dass Mehrweg funktionieren kann, wenn die Bedingungen stimmen und Verhalten gezielt beeinflusst wird.
Das Experiment: Mehrweg als Standard
Im Rahmen der Umsetzungsallianz mehrweg.einfach.machen wurde das bislang größte Verhaltensexperiment zum Thema Mehrweg gestartet. Acht große Gastronomieketten – darunter IKEA, Burger King, Haferkater, Valora, Zeit für Brot und Foodtrucks United – testeten in über 800 Filialen verschiedene »Nudges«, also psychologische Anreize, die Menschen zu umweltfreundlichen Entscheidungen motivieren. Die Breite reichte von voreingestellten Mehrwegoptionen an Bestellterminals über Rückgabestationen mit visuellen Signalen bis hin zu Bonus- und Belohnungssystemen für Mitarbeitende. Mit dem Ziel herauszufinden, welche Maßnahmen in der Praxis am stärksten wirken und wie nachhaltiges Verhalten Teil des Geschäftsalltags werden kann.
Wissenschaftlich begleitet von der Leuphana Universität Lüneburg und den Scieneers, werteten Forschende über 2,2 Millionen Datenpunkte aus – das größte Nudging-Experiment zur Mehrwegnutzung in Europa.
Der erfolgreichste Anreiz: »Mehrweg als Standard«. Bei IKEA stieg die Mehrwegquote so von 5 % auf bis zu 80 %. Auch bei Burger King zeigte die Mitarbeitenden-Challenge Wirkung, denn in manchen Filialen verdoppelte sich die Mehrwegnutzung.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren und müssen jetzt handeln. Unsere Umsetzungsallianz bringt Partner:innen zusammen, um in einem Kraftakt zu zeigen, dass Mehrweg eine echte und nutzerfreundliche Alternative ist«, sagt Sophia von Bonin, Mission Lead von Circular Futures bei ProjectTogether.
Von der Idee in die Praxis: Lernen im Echtbetrieb
Das Nudging-Experiment war kein Labortest, sondern ein Praxislabor im laufenden Betrieb. In enger Zusammenarbeit mit Gastronomieketten, Wissenschaft und Zivilgesellschaft entstand ein Erfahrungsraum, der zeigt, wie Innovation funktioniert, wenn Akteur:innen voneinander lernen. Die Ergebnisse flossen in das Playbook »Mehrweg am Point of Sale« ein: ein praxisorientiertes Handbuch, das Gastronom:innen, Kommunen und Caterern konkrete Handlungsempfehlungen gibt.
Darüber hinaus wurde mit dem »Wegweiser Mehrweg« eine Online-Plattform geschaffen, die erstmals alle relevanten Informationen bündelt: von der gesetzlichen Grundlage über Anbieterlisten bis zu Schulungsmaterialien.
Parallel entstand die #MehrMehrweg-Kampagne, gemeinsam mit der Agentur New Standard.s und Partner:innen wie Ströer: Auf 6.000 digitalen Screens erreichte sie über 300 Millionen Kontakte. Eine bundesweite Mitmach-Challenge motivierte über 1.000 Menschen, eigene Mehrwegideen umzusetzen. Über Social Media, Citylights und Filme wurde das Thema sichtbar und positiv besetzt.
Auch Unternehmen beteiligten sich mit internen Aktionen. Ein Rückgabe-Experiment in Bürogebäuden testete, wie Mehrweg-Behälter direkt am Empfang zurückgegeben werden können. Mitarbeitende sparten sich Umwege, und der Rücklauf stieg deutlich.
Wirkung: Kleine Anstöße, große Veränderung
Das Nudging-Experiment zeigt: Schon kleine Änderungen in der Gestaltung von Abläufen oder in der Kommunikation können Verhalten messbar verändern. Die Ergebnisse des Experiments im Überblick:
- Mehrwegquote von bis zu 80 % durch voreingestellte Standardoptionen
- Steigerung der Mehrwegquote um bis zu 155 % durch Mitarbeitenden-Challenges
- Über 2,2 Millionen Datensätze als Basis für neue Forschungsansätze
- Steigende Akzeptanz und positive Rückmeldungen von Kund:innen
- Erprobte Modelle für Restaurants, Kantinen und To-Go-Ketten
Wenn nachhaltiges Verhalten zur einfachsten Option wird, verändern sich Routinen fast automatisch. Auch in der Verwaltung findet der Ansatz Anklang: Kommunen prüfen, wie Nudging-Strategien auf öffentliche Kantinen und Schulen übertragen werden können.
»Das Nudging-Experiment beweist, dass Nachhaltigkeit funktioniert, wenn sie intuitiv ist – und Freude macht.«
Leonie Beck, Scieneers
Vom Verhaltensexperiment zur Bewegung
Das Mehrweg-Nudging-Experiment war ein Meilenstein, aber kein Endpunkt. Es markiert den Beginn einer langfristigen Lernbewegung. 2024 startet das Folgeprojekt Nudging 2.0, das untersucht, wie Preisgestaltung und soziale Normen die Wahl von Mehrweg weiter fördern. Erste Pilotprojekte in Städten und Kantinen sind bereits geplant.
Gleichzeitig wächst das Netzwerk: Immer mehr Gastronom:innen, Kommunen und Nachhaltigkeitspionier:innen greifen die Erkenntnisse auf, entwickeln eigene Tests und teilen Erfahrungen. So wird aus einem einzelnen Experiment ein deutschlandweites Lernsystem für nachhaltigen Konsum.
»Wir möchten Gastronom:innen deutschlandweit mobilisieren, mit dem Nudging-Experiment die Extra-Meile in Richtung Mehrweg-Wende zu gehen.«
Franziska Beez, Project Managerin, mehrweg.einfach.machen
Langfristig zeigt das Experiment, wie psychologische Forschung, Politikgestaltung und Unternehmenspraxis ineinandergreifen. Wenn smarte Anreize Alltagshandeln prägen, wird Nachhaltigkeit nicht zur Pflicht, sondern zur Gewohnheit und damit zum neuen Standard.
ProjectTogether in Aktion
ProjectTogether hat die Umsetzungsallianz mehrweg.einfach.machen gemeinsam mit WWF Deutschland und dem Mehrwegverband Deutschland aufgebaut und das Nudging-Experiment konzipiert, koordiniert und kommuniziert.
- Koordination: Aufbau der Allianz, Steuerung und Evaluation des Experiments
- Prozessarchitektur: Entwicklung der Nudging-Methodik, des Playbooks und praxisnaher Tools
- Kommunikation: Konzeption und Umsetzung der Kampagne #MehrMehrweg
- Transfer: Veröffentlichung der Ergebnisse, Etablierung des Wegweisers Mehrweg und Planung von Nudging 2.0
Der nächste Schritt: die Übertragung des Ansatzes auf neue Kontexte – von Festivals über Schulen bis hin zu öffentlichen Einrichtungen. Denn überall, wo Menschen täglich Entscheidungen treffen, kann Mehrweg zur ersten Wahl werden.
Erfahre mehr:
- Website von mehrweg-einfach-machen.de
- Download-Link Playbook Mehrweg am Point of Sale